Der Unverstandene

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Matthias Böhringer ist Musiker, Dirigent und Komponist und nicht zuletzt das, was nach jeder Definition des Wortes ein Genie ausmacht. Mit seinen Werken will er den Menschen konkrete Botschaften übermitteln. Leider werden diese von vielen weder erhört noch verstanden.

Ein kleines Reihenhaus am Bruchsaler Stadtrand. Ein Druck auf den Klingeltaster der Böhringers lässt irgendwo im Inneren “Ode an die Freude” erschallen, jene legendäre Chorpassage aus dem 4. Satz von Beethovens neunter und letzter vollendeter Sinfonie. Für Matthias eine der größten Kompositionen aller Zeiten, enthält sie doch derart viele Botschaften an die Menschen, transportiert in einer nahezu perfekten Symbiose aus Worten und Tönen, dass sie seit ihrer Uraufführung vor fast genau 200 Jahren ihresgleichen sucht. Genau darum geht es Matthias in seinem Schaffen: Etwas bewirken, etwas verändern, mit Musik viele kleine Samen der Veränderung säen, in der Hoffnung, dass ein paar von ihnen irgendwann aufgehen mögen. Dieses Ziel motiviert ihn: Alles zu geben, neun verschiedene Ensembles – egal ob Chöre oder Orchester – zu leiten, an Schulen und Hochschulen zu unterrichten und nicht zuletzt selbst zu komponieren.

Einen Überblick über Matthias‘ Gedankengänge dahinter, lässt sich an dieser Stelle leider nicht verschaffen. Einerseits weil dies den hier zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde, andererseits weil auch der Autor dieser Zeilen nach zwei Stunden Interview das komplexe Netz seiner Erwägungen und verbalisierten und musikalisierten inneren Dialoge nicht zur eigenen Zufriedenheit kartografieren konnte. Vereinfacht dargestellt könnte man sagen, Matthias ist unglücklich über viele Entwicklungen dieser großen und komplizierten Welt, möchte daher in seinen Werken an die Menschen appellieren, sich auf gemeinsame Werte, gemeinsame Ideale und grundlegende Ideen für ein langfristiges Miteinander zu besinnen. Im Geiste dieses Bestrebens hat Matthias Böhringer vor einigen Jahren das Stück “Spirit of Brotherhood” komponiert – zu deutsch “Geist der Bruderschaft”, also das unsichtbare Band, das alle Menschen miteinander verbindet, über Ländergrenzen, Ethnien und alle weiteren, willkürlich gezogenen Trennschichten hinweg. In diesem Projekt erheben alle beteiligten KünstlerInnen ihre Stimmen für unveräußerliche Rechte, Pflichten und Freiheiten, schon vor Jahrzehnten anno 1948 in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu Papier gebracht. Flapsig ausgedrückt könnte man sagen, Matthias hat diese historische, aber vielen leider völlig unbekannte Charta eingängig vertont.

Doch wer ist dieser Mann eigentlich, den der eigene Weltenschmerz dazu antreibt, mit Musik Veränderungen anzustoßen? Kurz gesagt: Er ist einer von uns. Ein Hügelländer mit Leib und Seele. Matthias wurde 1982 im Bruchsaler Krankenhaus geboren, wuchs danach in Unteröwisheim auf. Er besuchte die Eisenhutschule und wechselte danach auf das Schönborn-Gymnasium. Soweit so normal, doch normal war in Matthias Biografie erstaunlich wenig. Schon recht schnell war klar, dass Matthias über außergewöhnliche Begabungen verfügt. Keine klischeehafte universelle Hochbegabung, sondern ganz zielgerichtet auf sein Empfinden und sein Verständnis der Welt aus Noten, Tönen und Harmonien. Schon in jungen Jahren erlernte er mehrere Instrumente, spielte Flöte, Violine und Klavier. Eine ordentliche Schippe DNA dürfte dabei mitunter auch eine Rolle gespielt haben. Auch Matthias Vater Manfred war Vollblutmusiker, unterrichtete Musik in Oberderdingen, war Chorleiter und Dirigent.

Während andere Teenager mit 13 Jahren vollauf mit Popmusik, Liebesangelegenheiten und Akne-Pickeln beschäftigt waren, heimste Matthias mit seinen Erfolgen im Musizieren bereits die ersten Preise auf Bundesebene ein. Es fällt nicht weiter schwer sich vorzustellen, dass ihm diese Erfolge im dörflichen Umfeld nicht ausschließlich Ehrerbietung und Respekt einbrachten. Sozial war Matthias oft isoliert, eine Clique oder einen engen Freundeskreis gab es um ihn herum nicht. Er war eben anders, machte daraus auch keinen Hehl. Wie anders Matthias war, wird spätestens offenbar, als er mit gerade einmal 14 Jahren als Vorstudent an der Musikhochschule Karlsruhe aufgenommen wurde, diese parallel zu seiner gymnasialen Ausbildung in Bruchsal besuchte. Seine Oma, eine liebe, bodenständige Hausfrau aus einem einfachen, landwirtschaftlichen Haushalt, fragte ihn damals: Warum machst du das alles? Matthias‘ kurz angebundene Antwort: Weil ich es kann.

Nur eine kurze Anekdote und doch ein Schlüsselloch, durch welches sich ein Blick auf Matthias lebenslanges, inneres Dilemma erhaschen lässt. Den Wunsch, die Menschen mit seinen, in oft komplexer musikalischer Verpackung verinnerlichten Botschaften zu erreichen, nicht selten dafür aber auf Unverständnis oder das Fehlen von Erkenntnis zu stoßen. Ankreiden lässt sich ihnen das freilich nicht, um Matthias zu folgen, braucht es eine ausgedehnte Bandbreite an Klarheit, Aufmerksamkeit und fokussiertem Denken. Nebenbei lässt sich seine Musik nicht konsumieren, sie taugt nicht als Ablenkung, ist nach seiner Definition keine Unterhaltungsmusik, sondern dient dem Erkenntnisgewinn.

Das mag überheblich klingen, für manche vielleicht sogar arrogant, doch so verhält es sich ganz und gar nicht, das ist nicht Matthias‘ Intention. Auch wenn er sich zweifelsohne über die vollständige Rezeption seines Schaffens in dem von ihm angedachten Sinne freuen würde, ist es für ihn auch Lohn, wenn im Inneren anderer etwas berührt, etwas bewegt wird. Denn Matthias weiß genau, dass Musik in der Lage ist, Menschen an Stellen zu erreichen, die andere Ausdrucksformen nicht erreichen können. Deshalb unterrichtet er viele Laien-Musiker, in Chören, in Orchestern, in Gemeindesälen, in Sporthallen, an fast jedem Abend der Woche. Hierfür investiert er viel Zeit, Zeit, die an anderer Stelle für seine Familie fehlt, seine Frau und seine beiden Söhne. “Es ist aber einfach spannend, verschiedene Menschen zu erleben – Music connecting the people” erklärt er und erzählt von jenem besonderen, magischen Moment, wenn die Stimmen mehrerer Menschen plötzlich miteinander verschmelzen, plötzlich auf einer Wellenlänge liegen… der Zauber von universaler Konvergenz durch die Sprache des Klangs. Das gelingt nicht immer, doch wenn es gelingt, ist das für Matthias eine Form puren unverfälschten Glückes.

Wie bei so vielen anderen feinsinnigen Künstlern, in deren Geist das Segel der komplexen Gedankengänge immer voll im Wind steht, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Innen und dem Außen. Hätte ich Matthias an diesem Tag das erste Mal gesehen, so sähe ich einen Mann, durch dessen Nervenbahnen beständig etwas mehr Strom fließt als es üblich ist. Der am liebsten aufspringen und sich mit dem nächsten Projekt beschäftigen würde, durch dessen Frontallappen zeitgleich mehrere verschachtelte Gedankenströme jagen. Der mit seinem Umfeld zwar agiert, vielleicht aber etwas weniger Wert auf die kleinen Nuancen zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Gebote legt, als man es erwarten würde. Manchmal wird aus seinem Reden ein Insistieren, ein Anstupsen und die Bitte um seelischen und intellektuellen Austausch in einem Frequenzbereich menschlichen Denkens, den vermutlich zu viele seiner Gegenüber noch nicht einmal wahrnehmen können.

Ob ihn das frustriert, will ich wissen? “Ja, manchmal schon“, entgegnet er, aber nicht ohne Hoffnung. Ihn drängt es seine Botschaften loszuwerden, Sie in die Welt zu setzen, ein inneres Bedürfnis könnte man sagen. Und wer weiß, auch Beethovens Werk wurde erst lange Jahre nach ihm in seiner Komplexität und Tragweite verstanden, mancher Samen geht erst spät auf. Oder wie Ludwig van es einst gesagt hat: Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen!


Matthias nächste Projekte

Wandelkonzert der Stadt Kraichtal unter dem Motto „Träume“ am 08.07.2023 

proVocal | „Träume“ – Wandelkonzert

Landesmusikfestival Baden-Württemberg am 24.06.2023 in Bruchsal
 
Landes Musik Festival 2023 | Stadt Bruchsal
Landesmusikverband Baden-Württemberg e.V. (landesmusikverband-bw.de)
proVocal | „Musophieren“- Ich hab’ Dich musik!

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